0

'Ich bekenne'

Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Studien zur historischen Sozialwissenschaft 31

Erschienen am 06.02.2006, 1. Auflage 2006
44,90 €
(inkl. MwSt.)

Verlagsbestellung

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593378695
Sprache: Deutsch
Umfang: 388 S.
Einband: Paperback

Autorenportrait

Berthold Unfried, Dr. phil. habil., ist Dozent für Sozialgeschichte an der UniversitätWien.

Leseprobe

Einführung Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte. Am Anfang stand die Öffnung der sowjetischen Archive. Sie gaben eine Masse an bemerkenswerten Dokumenten frei. Diese Dokumente protokollierten die Rede von Menschen, die einander und sich selber diverser Unzulänglichkeiten und Verfehlungen bezichtigten. Sie zeigten einen Diskurs, der darauf basiert, sich nicht zu rechtfertigen, sondern sich zu kritisieren. Diese sowjetische Gewohnheit war aus der Zeit des Terrors bekannt. Die Angeklagten in den Schauprozessen der 1930er Jahre beschuldigten sich selbst, statt Argumente zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Dass ein selbstkritisches Herangehen an sich selbst als Voraussetzung für eine parteimäßige Haltung galt, konnte man noch aus der Welt des 'Realsozialismus' der 1970er Jahre hören. Aber dass eine Selbstthematisierung im Modus von Selbstkritik eine Massenpraxis war, die im Grunde von jedem Parteimitglied erwartet wurde, das zeigten erst die Protokolle dieser Übungen, die nach dem Zusammenbruch der Systeme zugänglich wurden, in denen sie üblich waren. Womit war diese Praxis vergleichbar? Auf der Suche nach Vergleichbarem kam mir ein Stück eigener Geschichte zu Hilfe. Wie die meisten katholisch erzogenen Kinder hatte ich in den 1960er Jahren noch Bekanntschaft mit einer jahrhundertealten Art gemacht, sich über seine Sünden zu thematisieren. Das waren zwar gänzlich formelhafte Sprechakte eines Schülers, die sich im späteren Leben nicht weiter entwickelten, sich nicht zu einer zusammenhängenden Weise, über sich selbst zu sprechen, vertieften. Aber sie disponierten doch zu einer bestimmten Art, über sich selbst zu denken, das Gewissen zu erforschen, nach Verfehlungen und Abirrungen zu suchen. Lag hier nicht eine Vergleichsmöglichkeit zwischen Selbstkritik und Beichte? Übten nicht auch die Beichtenden 'Selbstkritik', und 'beichtete' nicht auch der Selbstkritiker seine Verfehlungen seinen Genossen? Schon Zeitgenossen haben eine gedankliche Assoziation zwischen diesen beiden Formen hergestellt. Gemeinsam war doch den beiden Formen, dass sich der Einzelne selbst bezichtigte. Das erscheint doppelt auffällig in unserer Zeit, da es das Ziel des Einzelnen ist, seine Vorzüge und seine Individualität mittels aller möglichen Techniken der Selbstpräsentation in den Vordergrund zu stellen. Hatten diese Selbstbezichtigungen mit dem Verhältnis des Beichtenden und des Selbstkritik Übenden zu den Institutionen zu tun, innerhalb derer er seine Bekenntnisse über sich selbst ablegte? Das erschien als eine zweite mögliche Vergleichsperspektive: Selbstthematisierung auf Veranlassung und innerhalb von Institutionen. Welche Form der Vergesellschaftung des Einzelnen bringen diese Selbstthematisierungen zum Ausdruck?

Schlagzeile

Studien zur Historischen Sozialwissenschaft Hg. von Gerhard Botz und Josef Ehmer

Weitere Artikel aus der Reihe "Studien zur historischen Sozialwissenschaft"

Alle Artikel anzeigen